Gestern Abend erlebte Rudolstadt eine historische Rückschau, die den vollen Löwensaal in atemloses Staunen versetzte. Im Mittelpunkt: Friedrich Adolf Richter, ein Mann, der aus bescheidenen Anfängen heraus ein internationales Wirtschaftsimperium schuf und damit nicht weniger als den Geist einer Ära verkörperte. Unter der Moderation von Theaterdramaturg Michael Kliefert präsentierte Dr. Otto Hahn seine umfassende Biografie des Pioniers und eröffnete den Gästen eine neue Perspektive auf die Industrialisierung und ihre Helden. Das Werk ist in der inzwischen 8. Auflage der Rudolstädter Schriften unter dem Titel „Mit Pain-Expeller und Anker-Steinbaukästen in die Welt“ erschienen.
Friedrich Adolf Richter, der 1876 im Alter von nur 30 Jahren seine chemisch-pharmazeutische Fabrik in Rudolstadt gründete, war mehr als nur ein erfolgreicher Unternehmer. Er war ein Visionär, der seiner Zeit weit voraus war. Von der Produktion medizinischer Geheimmittel über die Herstellung von Schokolade und Lebkuchen bis hin zur Entwicklung des weltweit ersten Systemspielzeugs – die berühmten Anker-Steinbaukästen –, Richter agierte mit einer Innovationsfreude, die ihresgleichen suchte.
Dr. Hahn führte das Publikum durch die schillernde Welt von Richters Unternehmungen, die in ihrer Bandbreite bis heute beeindrucken. Mit Produktionsstätten in Rudolstadt, Nürnberg, Wien und St. Petersburg sowie einer Niederlassung am Broadway in New York war Richter ein Global Player, bevor dieser Begriff überhaupt existierte. Besonders hervorgehoben wurde seine Rolle als Pionier der Markenführung: Die Marke „Anker“, unter der er Steinbaukästen und andere Produkte vermarktete, war eine der ersten geschützten Marken des Deutschen Reichs – ein Symbol seiner Weitsicht und Innovationskraft.
Doch der Abend brachte auch die Schattenseiten eines Lebens zwischen Genie und Kontroverse ans Licht. Eine Verurteilung wegen des Verkaufs pharmazeutischer Produkte außerhalb der Apotheken brachte Richter nicht nur eine Vorstrafe ein, sondern auch die bösen Zungen der provinziellen Öffentlichkeit. Trotzdem ließ er sich nicht beirren und blieb seiner Überzeugung treu, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen.
Eine besondere Überraschung bot Dr. Hahn mit der Enthüllung, dass die Idee der Baukästen, die Richter zur Perfektion brachte, nicht – wie oft angenommen – von den Gebrüdern Lilienthal stammte. Sie wurde vielmehr von Jan-Daniel Georgens entwickelt, einem Verfechter der Fröbelpädagogik, der Holzklötze in farbige Bausteine transformierte. Richter griff die Idee auf und formte daraus ein Systemspielzeug, das das erfolgreichste seiner Zeit war und Generationen von Kindern auf der ganzen Welt inspirierte.
Michael Kliefert verlieh dem Abend mit seinen emotionalen Kommentaren zusätzlichen Glanz. Er sprach von „einer kleinen Sensation“ und zog Parallelen zu unserer Gegenwart: „Rudolstadt war das Silicon Valley des 19. Jahrhunderts, und Friedrich Adolf Richter der Elon Musk seiner Zeit.“ Er lebe seit 15 Jahren in Rudolstadt, habe schon viel über Anker und Richter gehört, aber so einen Blick auf die Geschichte und Bedeutung der Stadt habe er noch nie erfahren. „Wir müssen versuchen, diese Geschichte auch auf der Theaterbühne zu erzählen“, schwärmte Kliefert unter dem Beifall des Publikums.
Auch Günter von Keisenberg, ein Enkel Richters, war im Löwensaal unter den Gästen.
Die Buchpremiere war nicht nur ein intellektuelles Ereignis, sondern auch eine Hommage an einen Mann, der Rudolstadt in die Welt brachte und die Welt nach Rudolstadt holte. Die beiden Bände, reich bebildert mit bisher unveröffentlichtem Material, sind ab sofort zum Preis von 28 Euro erhältlich – ein zeitloses Geschenk, nicht nur zu Weihnachten.
Mit diesem Abend wurde deutlich: Friedrich Adolf Richter war mehr als ein Unternehmer. Er war eine Persönlichkeit, die mit ihrem Mut, ihrer Innovationskraft und ihrem unerschütterlichen Glauben an die Zukunft die Geschichte Rudolstadts und weit darüber hinaus prägte.
Otto Hahn:
Mit Pain-Expeller und Anker-Steinbaukästen in die Welt
Die Unternehmungen des Friedrich Adolf Richter (1846–1910)
Reihe: Rudolstädter Schriften – Ausgabe 8
Bände: 2
Herausgeber: Stadt Rudolstadt
ISBN: 978-3-9825046-1-2